Rick_Blaine schrieb:Hier wurde das ja offensichtlich: Die Verteidiger, kompetente Juristen, waren der Meinung, dass hier die Befürchtung der Befangenheit vorliegt. Ebenfalls kompetente Juristen der Kammer, welche den Befangenheitsantrag ablehnten, waren nicht der Meinung. Es blieben die beiden gegensätzlichen Meinungen bestehen, und hier musste und durfte der BGH nun eben entscheiden. Es war eben nicht so, dass hier von vorn herein feststand, dass die Kammer einen "Fehler" gemacht hatte. Erst seit dem Beschluss des BGH steht jetzt fest, dass die Kammer anders hätte entscheiden sollen.
Dass die Fehler nicht immer klar ersichtlich sind und dass es über diese unterschiedliche Meinungen geben kann, möchte ich natürlich nicht bestreiten. Wäre es anders bräuchte man ja keine kompetenten BGH-Richter. Dennoch wird die Meinung des BGHs erst dann angefragt, wenn einer der kompetenten Juristen den Verdacht hat, dass ein anderer kompetenter Jurist einen Rechtsfehler begangen hat. Ob einer der kompetenten Juristen die Kunst des Argumentierens im Prozess besser beherrscht hat, interessiert den BGH ja nicht so sehr.
Rick_Blaine schrieb:In meinem Studium hatte ich einen sehr guten Professor, der von uns Studenten im 1. Semester etwas Unerwartetes verlangte: Er sagte: argumentieren sie jetzt mal schlüssig, dass es sich bei dem vorgelegten Szenario nicht um einen rechtsgültigen Vertrag handelt. Und wir fanden, hey, easy, und argumentierten drauf los. Und dann die Überraschung: Er sagte, fein, und jetzt argumentieren Sie bitte einmal, dass es sich durchaus um einen rechtsgültigen Vertrag handelt. Wir waren überrascht, aber mit etwas Nachdenken gelang uns auch das. Und wir hatten eine wertvolle Lektion gelernt: in sehr vielen wenn nicht den meisten Fällen in der Praxis kann man durchaus als kompetenter Jurist zu unterschiedlichen Bewertungen kommen. Am Ende muss man dann bewerten, welche Position die "richtigere" ist.,
Ich denke sogar, dass es allgemein wichtig ist, Dinge von allen Seiten zu betrachten, sich in jede Seite zu versetzen und erst nach Einbeziehung möglichst vieler Variablen eine "richtigere" Entscheidung zu treffen. Auch danach sollte man offen bleiben und seine Meinung hinterfragen und an sich ändernde Erkenntnisse anpassen. Dazu benötigt man Flexibilität, Selbstreflektion und die generelle Bereitschaft zur Überzeugungsänderung und manchmal auch die Bereitschaft sich Fehler einzugestehen. Das ist ein guter Schutz vor Vorurteilen und vorzeitiger Überzeugungsbildung.