Kephalopyr schrieb am 16.08.2022:Wie ist das dann mit den Gedanken?
Hinterfragen gerade also meine Zellen sich selbst, oder ich? Aber was heißt denn ICH in dem Fall, wenn ich ein System aus unzähligen kleinen Systemen darstelle? Das ist doch eigentlich wie eine Art Bienenschwarm, der nur zusammen als Ganzes funktioniert, weil jede einzelne Biene eine bestimmte Aufgabe hat und doch ist jede Biene für sich lebendig, aber zusammen stellen sie etwas neues und eigenes dar, wie eine Art lebendes System.
In dem Fall bin ich also nicht ich sondern ein "wir", oder nicht?
Du vermischst hier zwei Bereiche: "Reaktion" und "Vorkommen/Existenz".
Das Wort "Ich" gehört in den Bereich "Reaktion".
Mit "Ich bin" wechselst du von "Reaktion" zu der Frage nach "deinem" Vorkommen, also zur Frage nach "Existenz".
Analysierst du dein Vorkommen, dann triffst du auf die Organisation vieler Zellen ("Zellorganismus").
Das Wort "Ich" wird aber deshalb nicht durch "Wir" korrigiert, denn hier geht es um "Reaktion".
Die Reaktion wird durch viele Zellen ausgeführt, aber im Entwurf dieser Reaktion ist die Einheit des Zellorganismus enthalten.
D.h. die Zusammenhänge in der Reaktion drehen sich immer um "den Akteur", also die Einheit des Zellorganismus.
Entscheidend ist hier das Konzept des Reaktionsentwurfs und zu diesem Entwurf ist "Ich" korrekt und "Wir" falsch, obwohl der Entwurf von vielen Einheiten durchgeführt/aufgestellt wird.
Dieses eigenartige "das Ich" der Philosophen, als "eigentlicher Akteur in Abgrenzung zum Körper", ist hier für das Verständnis natürlich maximal hinderlich.
Formulierungen wie "das Ich" und "das Selbst" sollte man noch nicht einmal mit der Beisszange anfassen - das ist, wie wenn man gegen eine Wand rennt.
Kephalopyr schrieb am 16.08.2022:Wo ist man dann wirklich seiner selbst, wenn das Selbst aber aus Zellen besteht, die für sich jeweils lebendige, eigenständige Systeme darstellen?
Was ist das für eine verwirrende Angelegenheit?
Nein, in Bezug auf den Reaktionsentwurf sind es keine eigenständigen Systeme, sie unterliegen der Auflage, plausibel in Bezug auf die Gesamtheit zu reagieren.
Die Zellen sind keine freien Einheiten, die sich darauf einigen, zusammenzuarbeiten, sondern ihre Arbeitsweise taugt (bei normaler Funktionsweise) überhaupt nur für den Reaktionsentwurf eines Gesamtsystems.
Kephalopyr schrieb am 19.08.2022:Wieso können wir uns eigentlich an vergangenes erinnern und an ein früheres Ich, also, wie wir mal gewesen sind, wenn sich jedoch fast alle Zellen im Körper erneuern? Oder verblasst deshalb unsere Erinnerung dann im Laufe der Zeit immer mehr, weil die Information Stück für Stück verloren geht, weil sich immer wieder neue Zellen bilden?
Weil es eine Kontinuität des Reaktionsentwurfes ist - die bisherigen Reaktionen gehen in den Entwurf der neuen Reaktion ein.
D.h. die ausführenden Zellen können nach und nach ausgetauscht werden (wobei Nervenzellen wohl sehr alt werden können), aber sie arbeiten immer für "das Gesamtsystem" und dieses System (Körper) verändert sich kontinuierlich und nicht sprunghaft.
Also, dass du dich an deine Vergangenheit als Person erinnern kannst, ist im Sinne des Gesamtsystems (Körper) korrekt.
Bei einer sprunghaften Veränderung (z.B. Anschwellung des Gehirns durch Unfall) kann es aber tatsächlich zu einem Verlust der eigenen Biographie kommen.
Solche Leute fangen dann neu an - sie haben ihre Vergangenheit, ihren Charakter, ihre Eigenarten, nicht mehr zur Verfügung.
Das liegt dann daran, dass das Nervensystem seine bisherige Situation verliert und neu anfängt.
Dass dann wieder Zusammenhänge zu einem Akteur (mit Perspektive "Ich") aufgebaut werden, liegt daran, dass es in Bezug auf den Körper im "Hier und Jetzt" korrekt ist.
Der Körper ist der Anlass ("Regelkreis") für die vielen Nervenzellen, den Reaktionsentwurf eines Gesamtsystems durchzuführen.
Ansonsten wäre ja die Frage ungeklärt, weshalb so eine Person ihre Persönlichkeit verliert, aber dennoch als "neue" Person weitermachen kann.
Kephalopyr schrieb am 19.08.2022:In diesem Video gibt es einen Part, der sagt:
"Krebs ist ein Teil von dir, dem sein eigenes Überleben wichtiger ist als deines.
Man könnte aber auch sagen, dass eine Krebszelle nur ein weiteres Lebewesen in dir ist, das überleben will."
Mit dem Beriff "Lebewesen" sollte man hier nicht spielen.
Krebszellen zeichnen sich aus meiner Sicht dadurch aus, dass sie in Teilen nicht mehr im Sinne des Gesamtsystems zusammenarbeiten.
Der Organismus prägt sich dann in einer Richtung aus, die dem Organismus nicht mehr dient.
Man kann hieran gut sehen, dass es bei den Zellen im
funktionierenden Organismus nicht wirklich um eigenständige Systeme geht.
Kephalopyr schrieb am 21.08.2022:Du hast bestimmt schon mal etwas von dem Begriff "außerkörperliche Erfahrung" gehört. Der Zustand unmittelbar nach einer Schlafparalyse. In diesem Zustand verlässt man rein vom Bewusstsein her, den Körper, bzw. von der Wahrnehmung her.
Vorsicht mit "Verlassen des Körpers".
Der Körper muss sich in seinem Wahrnehmungsentwurf explizit als "die im Körper vorliegende handelnde Einheit" berücksichtigen.
D.h. das ist eine Leistung im Aufbau von Zusammenhängen, die der Köper immer und immer wieder durchführen muss.
Eine Leistung, die aktiv durchgeführt werden muss, kann natürlich prinzipiell auch nicht oder anders durchgeführt werden (siehe "Agnosien").
Hier geht es aber nie um ein "Verlassen des Körpers", sondern um eine Abweichung im Aufbau von Zusammenhängen.
An Formulierungen wie "Verlassen des Körpers" erkennt man sehr schön, dass reichlich Denkfallen unterwegs sind.