Ob Wahrsager wirklich in die Zukunft sehen können, bleibt fraglich. Aber ein Experiment an der Princeton-Universität in den USA macht die Forscher nachdenklich. Gibt es bei schlimmen Katastrophen doch so etwas wie eine Vorahnung?

Nostradamus hat den Terror gesehen. »Es wird einen großen Donnerschlag geben. Zwei Brüder werden auseinandergerissen durch Chaos, während die Festung leidet. Der große Führer wird weichen. Der dritte Weltkrieg wird beginnen, wenn die große Stadt brennt.«

Das kann doch nicht möglich sein, dass ein Mann vor hunderten von Jahren die Katastrophe von New York beschrieben hat. Aber was sollen diese symbolischen Zeilen anderes bedeuten? Die »große Stadt« muss New York sein, die »Brüder« sind die Türme des World Trade Centers, die »Festung« ist Amerika. Und der »große Führer« – Bush vielleicht? So beklemmend nah an der Wirklichkeit ist die Weissagung von Nostradamus, dass sie in den Tagen nach den Anschlägen wie ein Lauffeuer um die Welt fegte, per E-Mail und per Weitersagen.

Aber – es war eine Fälschung. 942 Vierzeiler hat Nostradamus geschrieben, diesen nicht. Doch die meisten seiner echten Verse klingen ebenso düster und geheimnisvoll wie die erfundenen, sind außerdem ebenso antik und nebulös formuliert. Es ist also eine gute Fälschung. Und sie nimmt dem echten Werk von Nostradamus nichts von seiner Anziehungskraft – und den Ankündigungen anderer Wahrsager auch nicht.

Die Regale von Buchläden und Bibliotheken, in denen sich sonst Bücher über Wahrsager, Hellseher und Propheten stapeln, waren nach dem Terror von New York fast leer gekauft. Wie schon so oft, wenn Menschen Erklärungsbedarf für das Unfassbare hatten, blitzte auch jetzt eine magische Frage wieder auf: Gab und gibt es Menschen, die in die Zukunft sehen können? Menschen, die Katastrophen wie jene vom 11. September vorhergesagt haben?

Der Popstar aller Wahrsager hieß mit bürgerlichem Namen Michel de Notre-dame, latinisiert Nostradamus. Unstrittig ist: Er wurde 1503 als Sohn eines jüdischen Notars im Provence-Städtchen St. Rémy geboren. 1529 promovierte er zum Doktor der Medizin. In der Folgezeit machte er sich als furchtloser Pestarzt einen Namen, und es umgab ihn ein erstes Geheimnis: Weder er noch sein Esel, die ständig mit der schwarzen Seuche in Berührung kamen, erkrankten je selbst daran.

Später widmete sich der hochintelligente Mann der Astrologie. Er baute das oberste Stockwerk seines Hauses in ein Observatorium um. Dort befragte er die Sterne und ließ seinen Visionen freien Lauf. »Sitz ich des Nachts, zu forschen in geheimen Dingen, allein, zurückgelehnt auf ehernem Gestühl, dann lässt die Einsamkeit und ihre kleine Flamme das gelingen, was für den Glauben nimmer ist zuviel«, schrieb Nostradamus in einer Passage seiner berühmten »Centurien«, die erstmals 1555 erschienen.

Was aber steht noch darin? Der Seher soll die Weltläufe bis zum Jahr 3797 vorhergesagt haben und dabei neben vielem anderen den Großbrand in London 1666, die Erfindung der Eisenbahn, das Attentat von Sarajevo 1914, die Bombe von Hiroshima, die Gründung des Staates Israel und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.

So weit, so eindrucksvoll. Doch folgt man dem Autor Jean-Charles de Fontbrune, der 1981 einen furiosen Bestseller landete (»Nostradamus: Historiker und Prophet«), dann hat der Hellseher noch ganz andere Sachen beschrieben: Zwischen 1980 und 2000 werde der Papst in Lyon ermordet, es breche der Dritte Weltkrieg aus, eine sowjetisch-islamische Invasion unterwerfe Europa, Paris werde von der Roten Armee verbrannt, und die französische Fünfte Republik werde zusammenbrechen. Unter der milden Hand des neuen, sehr jungen Monarchen Heinrich werde aber alles wieder gut.

Es ist nämlich alles eine Frage der Lesart: Weil Nostradamus ziemlich kryptisch schrieb, auf Jahreszahlen fast völlig verzichtete und außerdem Altfranzösisch, Latein, Deutsch und andere Sprachen mischte, lassen seine Verse fast beliebigen Raum für Deutungen. Seit dem Tod des berühmtesten aller Wahrsager am 2. Juli 1566 hat es hunderte von Interpretationen gegeben. Aus Vers 74 der sechsten Centurie las der eine Forscher den Dritten Weltkrieg heraus, ein anderer die Wiedereinsetzung von König Charles II., ein weiterer die Regentschaft von Königin Elizabeth I., und der Nostradamus-Experte James H. Brennan glaubte eine nochmalige Regierungszeit von Benazir Bhutto zu erkennen, der früheren Premierministerin von Pakistan. Der Kölner Nostradamus-Forscher Ernst R. Ernst hat dagegen eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Er schrieb, in Wahrheit habe Nostradamus Ereignisse aus seiner Vergangenheit geschildert. Die Verse seien im Futur verfasst, um ihre kritischen Aussagen vor dem Blick der Inquisition zu schützen. So oder so: Nostradamus hat sich nicht geirrt, irren können sich nur seine Interpreten. Und wann immer etwas Schreckliches passiert, findet sich gewiss ein passender Vers, der die Katastrophe beschreibt. Aber auch das Gegenteil gilt: Niemand kann ausschließen, dass Nostradamus die Ereignisse der Gegenwart tatsächlich vorhergesagt hat.

Andere berühmt gewordene Seher haben sich klarer ausgedrückt als Nostradamus. Sie sind damit angreifbarer geworden, aber ihre Vorhersagen haben, wenn sie eingetroffen sind, auch mehr Gewicht bekommen. Manche ihrer Weissagungen sind bis heute unerklärlich.

So ist zum Beispiel unumstritten, dass ein Franzose unbekannten Namens im Kriegsjahr 1914 dem bayerischen Infanteristen Andreas Rill in einem elsässischen Kloster erzählte: »Diesen Krieg wird Deutschland im fünften Jahr verlieren.« Dann komme eine Revolution. Etwa 1932 erscheine ein »Mann aus der niederen Stufe, und der macht alles gleich in Deutschland«. Um 1938 kämen Überfälle und noch ein Krieg, und 1945 werde »Deutschland von allen Seiten zusammengedrückt, und das zweite Weltgeschehen ist zu Ende«.

Ein anderes Beispiel. Um 1800 lebte im nördlichen Niederbayern ein Mann, der vermutlich Matthias Lang hieß und als »Mühlhiasl« zum Mythos wurde. Er arbeitete zunächst in einer Klostermühle und zog später als Wahrsager umher. Gemäß den Überlieferungen, die ein Pfarrer 1923 aufzeichnete, kündigte der Mühlhiasl eine Vielzahl von Katastrophen an, die dann tatsächlich eintraten: »Eine Zeit wird kommen, wo die Menschen wieder wenig werden und die Welt abgeräumt wird.« Das sei dann der Fall, »wenn im Vorwald draußen die eiserne Straße fertig ist.« Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war gerade in der Heimat des Mühlhiasl die Eisenbahnstrecke von Deggendorf nach Kalteneck entstanden.

Eine zweite große Katastrophe kündigte der Bayer an, »wenn in Straubing die Donaubruck baut wird, sie wird aber nimmer fertig.« 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, war die neue Donaubrücke in der Tat fast vollendet – aber die Betondecke fehlte noch. War also auch der Mühlhiasl ein Wahrsager der Katastrophen? Schon möglich – falls es diesen Mann je gegeben hat. Der Passauer Volkskundler Reinhard Haller hat diesen oder ähnliche Namen in keinem Archiv gefunden und hält ihn für eine Erfindung. Dann wären natürlich auch die Weissagungen bloß Legende. Das sind die zwei Schwächen des Zaubers, in die Zukunft zu blicken: Mal lässt sich kaum feststellen, ob eine Aussage wirklich eine Vorhersage ist oder erst nach dem Ereignis entsteht und das Etikett einer Vorhersage erhält. Und in anderen Fällen sind die Weissagungen so grobmaschig, dass einfach zu viel durchpasst.

So rühmt sich die Münchnerin Hildegard Habelt damit, in ihrem Buch »Die Rose Gottes« die Terroranschläge auf das World Trade Center angekündigt zu haben. Ist aber ihr Satz »Große Metropolen wie Paris und New York stehen unter Beschuss« dafür ausreichend – zumal sich ihre Vision auf das Jahr 2000 bezog? Wenn Propheten wie Habelt mal nachweislich falsch liegen, dann gilt häufig: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, beim Termin kann man ja durchaus mal ein bisschen danebenliegen. Im Extremfall führt das dazu, dass tausende von Anhängern obskurer Seher immer wieder auf den Weltuntergang warten. Der findet natürlich nicht statt – wohl aber die Bekanntgabe eines neuen Termins für das Ereignis.

Wenn so schwierig zu prüfen ist, wie verlässlich Seher und ihre Katastrophenvisionen wirklich sind – vielleicht lässt sich wenigstens erhellen, ob erfolgreiches Wahrsagen wissenschaftlich gesehen überhaupt möglich ist? Welche Mittel ein Wahrsager zugrunde legt, ist dabei einerlei. Astrologen lesen in den Sternen, Chirologen in den Händen, viele Wahrsager in Karten, Pendelschwingungen oder Glaskugeln. Früher beobachteten die römischen Auguren den Flug der Vögel, die Griechen befragten das Orakel von Delphi, und Hepatoskopen stellten ihre Prognosen anhand der Analyse der Leber von toten Tieren. Aber auch Kaffeesatz oder die bloße Intuition sind erlaubt.

Ein Soziologe mit dem trefflichen Namen Edgar Wunder vom Forum Parawissenschaften im badischen Sandhausen hat die Trefferquote von Wahrsagern ermittelt. Zunächst sammelte er von 1990 bis Ende 1999 ihre Aussagen. Er nahm sie nur dann in seine Auswahl, wenn sie eindeutig überprüfbar waren – wenn also bei der Ankündigung eines Erdbebens auch Ort und Zeit genannt wurden. Außerdem mussten die Aussagen überraschend sein, sie durften zum Beispiel nicht den FC Bayern als Deutschen Fußballmeister ankündigen.

Rund 800 Weissagungen kamen zusammen, darunter jede Menge angekündigte Katastrophen. Das Ergebnis: Vier Prozent trafen zu. Immerhin sagte dabei ein amerikanischer Wahrsager korrekt den Absturz einer Swissair-Maschine bei New York voraus. Nur: Die anderen Prognosen desselben Wahrsagers, fast 300, waren »völlig unbrauchbar«, wie Edgar Wunder feststellte. Kurzum gilt, von Einzelfällen abgesehen, das Statement des Freiburger Parapsychologen Eberhard Bauer: »Auf Prophetien ist kein Verlass.«

Jede Aussage und jede Prognose trifft, für sich genommen, auf viele Menschen zu. Kann aber auch die Summe noch als Zufall gelten?

Der tschechische Parapsychologe Milan R ´yzl bietet als Erklärung die »Psi-Energie« an: Er könne sich so etwas wie einen sechsten Sinn vorstellen, ein noch unentdecktes Wahrnehmungsorgan des Menschen. Er nennt es entsprechend das »Psi-Organ«. Diesem Organ seien Informationen zugänglich, die den anderen fünf Sinnen verborgen bleiben. Handfester gehen Forscher der amerikanischen Universität von Princeton vor. Sie haben 45 Zufallsgeneratoren an Freiwillige in verschiedenen Ländern verteilt – an Amerikaner, Brasilianer, Inder, Neuseeländer, Südafrikaner, auch an vier Deutsche. Das Ziel ist es, herauszufinden, ob Menschen kraft ihres Bewusstseins eine technisch erzeugte Zufallskurve beeinflussen können. Die Forscher gehen dabei davon aus, dass ihre Versuchsper-sonen nicht ständig zu Hause neben dem Gerät hocken müssen, das die Zufallskurven erzeugt – es reiche auch die gedankliche Verbindung.

Die Zufallsgeneratoren – kleine, unauffällige Kästen – erzeugen einen Strom von 200 Bits pro Sekunde. Das heißt, innerhalb dieser Sekunde gibt es 200-mal folgende zufällige Situation: Entweder entsteht ein Impuls (Eins) oder nicht (Null). Der Mittelwert aller Impulse innerhalb einer Sekunde müsste also um die Zahl 100 liegen. Jedesmal, wenn die Versuchspersonen sich in ihren Computer eingeloggt haben und online sind, sendet die Software des Zufallsgenerators die Daten vom Tage nach Princeton. Auch am Abend des 11. September 2001.

Als die Wissenschaftler das Ergebnis sahen, konnten sie es kaum glauben: Etwa vier Stunden bevor die Flugzeuge in das World Trade Center krachten, kam der registrierte Datenfluss bei manchen Generatoren durcheinander. Von den Augenblicken der Katastrophe an empfing die Universität Princeton dann Daten weit über dem Mittelwert – obwohl die Versuchspersonen von den Anschlägen immer noch nichts wussten.

Eine Erklärung haben die Forscher aus Princeton dafür nicht. Außer der vorsichtigen Vermutung, es gebe vielleicht eine bisher unbekannte Form von menschlichen Energieströmen. Der Projektleiter Roger Nelson spricht von »koordinierten Gedanken und Gefühlen einer großen Zahl von Menschen weltweit«, die den zufälligen Datenstrom in plötzliche Bewegung versetzt haben. »Wir stellen uns ein Bewusstseinsfeld vor, das bei globalen Ereignissen zutage tritt.« Das könne eine Art fünfte, nichtphysikalische Dimension sein, meint Nelson: die Informations-Dimension.

Setzen also große Katastrophen wie die von New York eine weltumspannende, unsichtbare Kraft frei? Und ist diese Kraft eine ähnliche, wie sie Wahrsager haben?

Wenn das so ist, dann bedeutet das auch: Im Prinzip kann jeder hellsehen und wahrsagen. Dazu passt, dass in Umfragen rund 40 Prozent der Befragten angeben, schon einmal oder mehrfach Vorschau-Erlebnisse gehabt zu haben. Meistens von schrecklichen Ereignissen. Typisch ist zum Beispiel ein Traum, in dem der Vater oder ein anderer Ange-höriger stirbt – was dann kurze Zeit später tatsächlich passiert.

Die Forscher der Universität Princeton versuchten vor einigen Jahren schon einmal, dem Phänomen Präkognition (Vorhersehen) im Experiment auf die Spur zu kommen. Die Versuchsreihe war so aufgebaut, dass eine Person A zu einem zufällig ausgewählten Ort fuhr, während eine zweite Versuchsperson B im Labor blieb. Noch bevor A den Ort erreicht hatte, schilderte B ihre Eindrücke und fertigte Skizzen an von dem Ort, an dem sie A zu sehen glaubte.

Die Forscher untersuchten 334 Protokolle, ohne klares Ergebnis. Manche Beschreibungen stimmten mit geradezu fotografischer Genauigkeit, andere waren völlig nichtig. Hatten nun wenigstens die treffsicheren Versuchspersonen wirklich außergewöhnliche Fähigkeiten? Das haben die Princeton-Forscher leider nicht ergründet. Es sei in dem Projekt nicht darum gegangen, Einzelpersonen zu testen, argumentiert der Forscher Arnold Lettieri. Karin Krug meint: Wahrsagen kann man lernen. Sie bietet Seminare zum Kartenlegen, Pendeln und Handlesen an. Teilnehmen kann jeder, der ihr nicht allzu begriffsstutzig oder skrupellos erscheint – und der 6500 € für die Komplettausbildung zahlt. Acht ihrer früheren Teilnehmer arbeiten inzwischen selbst als berufliche Wahrsager. Propheten der Katastrophe wie Nostradamus, der Mühlhiasl oder jener namenlose Franzose ist keiner von ihnen geworden.

Schreckensverkünder gibt es aber auch ohne Ausbildung reichlich. Es ist ja jeder ein Wahrsager, der sich so nennt. Zum Beispiel Jim Lewis aus San Francisco. Ob er Recht hat, werden wir aber erst zwischen den Jahren 2045 und 2063 erfahren. Für diese Zeit sagt Lewis nämlich Krieg, Anarchie und Auflösung voraus.