Hanau-Angehörige legen Verfassungsbeschwerde ein

Zum Terroranschlag von Hanau gab es bisher keinen Prozess vor einem deutschen Gericht. Die Familie des ermordeten Hamza Kurtović kämpft seit Jahren für Aufklärung. Jetzt legt sie Verfassungsbeschwerde ein.

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Der Notausgang wäre die einzige Chance gewesen

Die Familie von Hamza Kurtović ist sich sicher, dass die jungen Männer in der Bar ihre einzige Chance genutzt hätten und zu einem offenen Notausgang gerannt wären. Das taten sie in der Tatnacht nur deshalb nicht, weil sie wussten, dass der Ausgang verschlossen war. Die Hanauer Staatsanwälte bleiben dennoch dabei: Man könne sich nicht sicher sein, dass die Barbesucher zu einem offenen Notausgang gerannt wären. Doch gerade zu dieser Frage sei nicht gründlich genug ermittelt worden, sagt die Familie Kurtović.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch ein Gutachten des Londoner Recherchekollektivs Forensic Architecture. Das kam schon 2022 zu dem Ergebnis: Den meisten Barbesuchern hätte die Flucht vor dem Täter gelingen können, wenn der Notausgang offen gewesen wäre. Die fünf jungen Männer in der Bar hätten sich wahrscheinlich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Die Staatsanwaltschaft habe die Zeit für die Flucht falsch berechnet. Tatsächlich sei fast doppelt so viel Zeit zur Verfügung gestanden, als bei ihren Ermittlungen zugrunde gelegt wurde.

Wurden wichtige Zeugen nicht ausreichend befragt?

Die Familie Kurtović beklagt auch, dass zu der Frage, ob die Polizei angeordnet habe, den Notausgang abzuschließen, weder Polizisten noch wichtige Zeugen ausreichend befragt worden seien. So gibt es eine schriftliche Zeugenaussage, die der ARD-Rechtsredaktion vorliegt. Ein Zeuge versichert, dass er 2017 persönlich eine polizeiliche Anordnung zum Notausgang mitbekommen habe. Er selbst sei bei einer Razzia in der Arena Bar festgenommen und eine Stunde lang in Handschellen vor der Bar festgehalten worden. Dabei habe er mit angehört, wie ein Polizist den Barbetreiber angewiesen habe, den Notausgang künftig geschlossen zu halten.

Vor dem hessischen Untersuchungsausschuss hatte der Barbetreiber bestritten, dass es eine solche Anordnung gegeben habe. Auf Anfrage der ARD-Rechtsredaktion hatte auch das zuständige Polizeipräsidium geantwortet, dass durch die Polizei niemals die Weisung oder Aufforderung ergehe, Notausgänge zu verschließen.

https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/hanau-anschlag-verfassungsbeschwerde-100.html

Bereits die Erfahrungen im NSU-Komplex haben überaus deutlich gemacht wie wichtig es ist den Narrativen und Ausführungen von Opferhinterbliebenen nicht einfach blanko zu glauben und alles sakrosankt zu übernehmen. Leider trifft dies auch auf den Anschlag von Hanau zu denn hier werden ebenfalls bestimmte Stichpunkte immer wieder, geradezu Mantra artig, wiederholt und so getan als ob es sich damit bereits um eine gesicherte Tatsache handeln würde. In Wahrheit jedoch sind diese manchmal nur im Kern richtig und damit differenzierter zu betrachten oder gar komplett falsch. Für ersteres kann man als Beispiel den immer wiederkehrenden Vorwurf des verschlossenen Notausgangs anführen. Dazu gehört allerdings auch dass zu der Prämisse noch folgendes ergänzt werden muss:

III. Der Notausgang war in der Tatnacht höchstwahrscheinlich verschlossen – dies hatte Auswirkungen auf das Fluchtverhalten

Für den Untersuchungsausschuss steht fest, dass der Notausgang in der Tatnacht verschlossen war und die anwesenden Gäste auch aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit davon ausgingen. Dies wirkte sich auf das Fluchtverhalten der späteren Opfer von T. R. aus.

Entgegen der Aussagen des ehemaligen Betreibers der „Arena Bar“ und seiner Angestellten ist davon auszugehen, dass der Notausgang in der Tatnacht verschlossen war. Die Zeugenaussagen und die Auswertung des zur Verfügung gestellten Videomaterials der „Arena Bar“ aus der Tatnacht könnten den Schluss zulassen, dass auch am Tatabend durch mehrere Gäste im Laufe des Abends und auch noch etwa eine halbe Stunde vor der Tat vergeblich versucht wurde, durch den Notausgang ins Freie zu gelangen. Die Aussagen waren zwar teilweise widersprüchlich und stehen auch der
Bekundung entgegen, man habe gewusst, dass der Ausgang immer verschlossen gewesen sei. Die Aussagen lassen sich jedoch auch damit begründen, dass der Notausgang gelegentlich geöffnet war und Gäste auch manchmal den Notausgang nutzten.

Ein in der Tatnacht am Tatort eingetroffener Kriminalbeamter konnte gegen 02:30 Uhr feststellen, dass sich zumindest zu diesem Zeitpunkt die Notausgangstür nicht öffnen ließ. Auch die weitere, am Tag nach der Tat anwesende Kriminalbeamtin hatte die Verschlussverhältnisse des Notausgangs überprüft und die Tür verschlossen vorgefunden. Die Akte der Bundesanwaltschaft enthält jedoch keinen ausführlichen Tatortbefundbericht der „Arena Bar“, sondern nur den vorläufigen Tatortbefundbericht der hessischen Kriminalbeamten. Unter den Gästen der „Arena Bar“ war nach ihren Bekundungen allgemein bekannt, dass der Notausgang in der Regel verschlossen war. Immer wieder versuchten Gäste, den Notausgang als Abkürzung zu nutzen, was jedoch nur selten gelang. Die hierzu vernommenen Zeuginnen und Zeugen waren sich einig, dass der Notausgang öfter verschlossen als geöffnet war.

Das Wissen um den verschlossenen Notausgang hatte auch Auswirkungen auf das Fluchtverhalten der anwesenden Gäste. Aus der Sicht der Opfer war es folgerichtig, sich am Fluchtverhalten der anderen Anwesenden zu orientieren und hinter den Tresen in Richtung des Lagerraumes der Bar zu fliehen, in der Hoffnung, dass dieser sich öffnen lasse.

Der Untersuchungsausschuss befasste sich zudem mit der Frage, ob die sieben Personen in der Bar, von denen zwei ermordet wurden, ausreichend Zeit gehabt hätten, durch den Notausgang zu fliehen. Die durch die Angehörigen beauftragte Gruppe Forensic Architecture kam für sich zu dem Ergebnis, dass wahrscheinlich fünf von sieben Personen die Flucht durch den Notausgang gelungen wäre. Ausschlaggebend für den Tatverlauf war aber vor allem, dass die Anwesenden davon ausgingen, dass der Notausgang verschlossen und damit keine Fluchtoption war. Die strafrechtlichen Ermittlungen kamen zu dem Ergebnis, dass ein Kausalzusammenhang mit dem Verschließen des Notausgangs durch den damaligen Betreiber der „Arena Bar“ und dem Tod der Opfer nicht abgeleitet werden könne. Auch wenn T. R. für wenige Sekunden aus dem Blickfeld der späteren Opfer verschwunden war, bedeute dies nicht zwingend, dass bei geöffnetem Notausgang tatsächlich eine Flucht in diese Richtung eingesetzt hätte, da den späteren Opfern in dieser kurzen Zeitspanne hätte bewusst werden müssen, dass T. R. als nächstes die „Arena Bar“ betreten werde. Aus den von dem Ausschuss eingesehenen Videos war erkennbar, dass eine Gruppendynamik entstand, bei der alle Betroffenen hintereinander her in eine Richtung gelaufen sind, um Schutz zu suchen. Auch dieser Aspekt spielt für die Bewertung eine Rolle.

Die Staatsanwaltschaft Hanau stellte fest, dass es jedoch im Nachhinein nicht mehr möglich ist, die authentischen Gedankengänge der Todesopfer zu rekonstruieren und zweifelsfrei zu klären, ob diese tatsächlich in Richtung des Notausgangs geflohen wären, wenn dieser geöffnet gewesen wäre. Der Untersuchungsausschuss kann hierzu keine anderen Feststellungen treffen.

Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Anschlag von Hanau, Seite 548/549

Völlig abwegig hingegen ist dagegen der zweite Vorwurf indem erneut die falsche und bereits widerlegte Behauptung befeuert wird der Verschluss des Notausgangs sei auf Anordnung der Polizei zurückzuführen. Weder ist das korrekt noch hätte so eine Anweisung logisch einen Sinn ergeben:

2. Bewertung zu Ziffer 4 b) des Einsetzungsbeschlusses Die dem Untersuchungsausschuss unter Ziffer 4 b) gestellten Einzelfragen,
„b) ob ein Betreiber oder ein Mitarbeiter der ,Arena Bar’ Informationen an Sicherheitsbehörden geliefert hat und wie dieser Umstand sich auf den behördlichen Umgang mit dem verschlossenen Notausgang gewirkt hat.“
beantwortet der Ausschuss zusammenfassend wie folgt:

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Im zeitlichen Abstand zur Tat verbreitete sich unter ehemaligen Gästen der „Arena Bar“ die Erzählung, dass in der Vergangenheit bei einem Polizeieinsatz ein Verdächtiger durch die Notausgangstür geflüchtet sei. Bei der anschließenden Verfolgung sei ein Polizeibeamter verletzt worden, weshalb die Notausgangstür seither auf Anweisung der Polizei verschlossen worden sei. Glaubhafthaftigkeit gewann dieses Gerücht insbesondere dadurch, dass der ehemalige Betreiber der „Arena Bar“ in den Jahren vor der Tat immer wieder erklärt haben soll, dass er die Notausgangstür auf Anweisung der Polizei verschließe und alle zwei Wochen Videoaufzeichnungen aus der Bar an die Polizei übergebe. Für den Untersuchungsausschuss ergaben sich keine weiteren Hinweise, die den Verdacht einer solche Anweisung durch die Polizei erhärten. Vielmehr ergab die Beweisaufnahme Anhaltspunkte, die gegen eine solche Anweisung sprechen.

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Im Rahmen der Untersuchung haben sich keine Anhaltspunkte für Absprachen, gleich welcher Art, zwischen dem ehemaligen Betreiber der „Arena Bar“ und den hessischen Sicherheitsbehörden ergeben. Ein Vermerk über einen Einsatz in der „Arena Bar“, bei dem ein Polizeibeamter verletzt wurde, existiert im Einsatzleitsystem der hessischen Polizei nicht. Der ehemalige Barbetreiber bot der Polizei zwar die routinemäßige Herausgabe der Videoaufzeichnungen an, was jedoch aus datenschutzrechtlichen Gründen abgelehnt wurde. An den häufigen Kontrollen in der „Arena Bar“ war eine Vielzahl von Polizeibeamtinnen und -beamten verschiedenster Dienststellen beteiligt, sodass ein ständiger Personalwechsel stattfand, der auch eine Absprache nahezu unmöglich machte. Zudem wäre ein Abschließen der Notausgangstür polizeitaktisch nicht vorteilhaft gewesen.

Vielmehr sind zahlreiche umfassende Kontrollen durch die hessischen Sicherheits- und Ordnungsbehörden festzustellen. Die häufigen Kontrollen durch Polizei und Ordnungsbehörden dienten zum einen dazu, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Jugendschutzvorschriften in der „Arena Bar“ zu ahnden. Zum anderen sollte den häufigen Beschwerden von Anwohnerinnen und Anwohnern durch dokumentierte Kontrollen nachgegangen werden, um Lärmbelästigungen zu unterbinden. Hinzu kamen zahlreiche Kontrollen wegen der unerlaubten Aufstellung von Geldspielautomaten. In diesem Zusammenhang erfolgten auch angekündigte Nachkontrollen, die den Eindruck erweckt haben könnten, der Betreiber sei vorab über Maßnahmen informiert worden. Polizeilich festgestellte Mängel, die außerhalb der polizeilichen Zuständigkeit lagen, wurden den städtischen Behörden gemeldet und mündeten in eine Vielzahl von Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen den ehemaligen Betreiber der „Arena Bar“. Schließlich wurde im November 2019 eine Gewerbeuntersagung ausgesprochen. Von einer Zusammenarbeit mit hessischen Sicherheits- und Ordnungsbehörden hätte der Betreiber somit nicht profitiert. Eine solche Absprache ist deshalb wenig wahrscheinlich.

Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Anschlag von Hanau, Seite 578/579/580